12.01.2024, Rechtsanwältin Carina Möser
Leitsatz
a) Das Vorschriftzeichen 220 in Verbindung mit § 41 Abs. 1 StVO gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung.
Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken (“Rangieren“) ist -ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße- kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung.
b) Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem Verkehrsunfall (hier: Zusammenstoß eines aus einer Grundstückszufahrt auf eine Einbahnstraße einfahrenden Fahrzeugs mit einem auf der Einbahnstraße unzulässig rückwärtsfahrenden Fahrzeug).
Sachverhalt
Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall in einer Einbahnstraße geltend.
Die Erstbeklagte befuhr die Einbahnstraße vorwärts in der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Sie fuhr zunächst an der Grundstückseinfahrt des Klägers vorbei und hielt im Bereich einer freien Parklücke links der Fahrbahn an. Um in die Parklücke einfahren zu können, musste die Erstbeklagte einige Meter auf der Fahrbahn zurücksetzen. Währenddessen fuhr der Kläger rückwärts aus seiner Grundstückseinfahrt heraus. Die beiden Fahrzeuge kollidierten miteinander.
Außergerichtlich regulierte die Zweitbeklagte 40 % der klägerseits geltend gemachten Schäden. Mit der Klage begehrt der Kläger die restlichen 60 %.
Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben und damit die Alleinhaftung der Beklagten festgestellt.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen.
Urteilsbegründung
Der BGH stellt fest, dass die Erstbeklagte die Einbahnstraße unzulässig rückwärts befuhr und damit gegen Zeichen 220 i.V.m. § 41 Abs. 1 StVO verstieß.
Dazu führt der BGH aus, dass lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken (“Rangieren“) -ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße- kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrichtung sei.
Demgegenüber sei Rückwärtsfahren in Einbahnstraßen aber unzulässig, wenn es dazu dient, erst zu einer (freien oder freiwerdenden) Parklücke zu gelangen. Unzulässig sei auch ein Rückwärtsfahren, das dazu dient, einem Fahrzeug die Ausfahrt aus einer Parklücke zu ermöglichen, um anschließend selbst in diese einfahren zu können.
Weiter führt der BGH aus, dass den Kläger kein Verschulden treffe. Er habe nicht gegen § 9 Abs. 5, § 10 Abs. 1 StVO verstoßen. Der gegen den aus einer Grundstückseinfahrt rückwärts in den fließenden Verkehr Einfahrenden sprechende Anscheinsbeweis greife hier nicht, da keine typische Fallkonstellation vorliege. Wegen des Umstandes, dass die Erstbeklagte die Einbahnstraße in unzulässiger Weise rückwärts befuhr, liege kein typischer Geschehensablauf vor, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf ein schuldhaftes Verhalten rechtfertige. Es existiere kein Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdränge, dass unter diesen Umständen, den aus der Grundstückszufahrt auf die Einbahnstraße einfahrenden Kläger ein Verschulden treffe.
Fazit
Mit dieser Entscheidung stellt der BGH nicht nur klar, in welchen begrenzten Fällen ein Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung zulässig ist, sondern stellt auch anschaulich dar, dass die Anwendung eines Anscheinsbeweises bei Vorliegen besonderer Umstände ausscheidet.