Neuigkeiten aus dem Verkehrsrecht

20.05.2022, Rechtsanwältin Carina Möser

Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme – BGH, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 47/21

LEITSATZ

 Bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung gilt das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme. 1.)

URTEILSBEGRÜNDUNG

Der BGH kommt zu dem Ergebnis, dass beide Fahrzeuge keinen Vorrang hatten und beide Verkehrsteilnehmer dazu verpflichtet waren sich zu verständigen, wer als erster in die Engstelle einfahren darf. Gelingt die Verständigung nicht, sind sie dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen. 2.)

KOMMENTAR

Aus diesem aktuellen Anlass soll das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme näher betrachtet werden.

Heutige Gesetzesfassung
Die seit 1970 geltende Fassung des §1 Abs. 1 StVO lautet unter der Überschrift „Grundregel“ wie folgt:

  • „(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“

Bedeutung
Absatz 1 normiert das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme. Aus der danach geforderten ständigen Aufmerksamkeit wird der Grundsatz des defensiven Fahrens und der doppelten Sicherung abgeleitet. 3.)

Aus diesen beiden Grundsätzen folgt, dass allzeit mit Fehlern anderer im Straßenverkehr gerechnet werden muss und jeder Verkehrsteilnehmer zur Vermeidung von Schäden verpflichtet ist. 4.)

Jedoch hätte die strikte Anwendung der beiden Grundsätze zur Folge, dass der gesamte Straßenverkehr zum Erliegen kommen würde, da jeder Verkehrsteilnehmer die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen müsste. 5.)

Daher werden die beiden Grundsätze durch den Vertrauensgrundsatz aufgeweicht. Dieser geht auf eine Entscheidung des Reichsgerichts zurück und besagt, dass derjenige, der sich selbst verkehrsgerecht verhält, nur mit solchen Fehlern anderer rechnen muss, die nach den Umständen bei verständiger Würdigung als möglich zu erwarten sind. Der Grundsatz greift aber nicht, wenn selbst ein Verkehrsverstoß begangen wird. 6.)

Anforderungen an den Fahrer
Während von einem Idealfahrer im Sinne des § 17 Abs. 3 S. 2 StVO ein sachgemäßes und geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinausgehend erwartet wird, genügt zur Einhaltung des Rücksichtnahmegebotes die Beachtung der üblichen Anforderungen.7.)
Wer jedoch gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt kann schon kein Idealfahrer sein, sodass grundsätzlich in Höhe der eigenen Betriebsgefahr, also in der Regel mit einem Verschuldensanteil von 25% gehaftet wird. 

Realistische Betrachtung
Unter Betrachtung der immer mehr zunehmenden Verkehrsdichte, der geringen menschlichen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne und der Informationsverarbeitungsdauer des menschlichen Gehirns, sind die Anforderungen, die das Rücksichtnahmegebot an die Verkehrsteilnehmer stellt, eine unmögliche Aufgabe. 8.)

Dabei soll aber das Rücksichtnahmegebot nicht als ein unerreichbarer Maßstab verstanden werden, sondern als Appell an jeden einzelnen Verkehrsteilnehmer, seine eigenen Interessen im Zweifel zurückzustellen und Gefahren für sich und andere zu vermeiden.

FAZIT

Wer nachgibt ist vielleicht nicht immer der klügere, aber derjenige mit dem heilen Auto.
Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt.

1.) BGH, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 47/21.
2.) BGH, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 47/21.
3.) Müther in: Freymann/Wellner, juris PK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 1 StVO, Rn. 30 ff.
4.) Ebda.
5.) Ebda.
6.) Müther in: Freymann/Wellner, juris PK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 1 StVO, Rn. 36 ff.; vgl. RG, Urt. v. 09.12.1935 – 2 D 583/35-, RGSt 70, 71-74.
7.) Müther in: Freymann/Wellner, juris PK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 1 StVO, Rn. 52 ff
8.) Böcher: Verantwortung im Straßenverkehr in juristischer, psychologischer und pädagogischer Sicht, NZV 1989, 209.