Bundesgerichtshof mit neuem Urteil zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

26.11.2024, Rechtsanwalt Frederic Leutheuser LL.M.

Mitten in einer Zeit, in dem politisch kontrovers über Themen wie einen hohen Krankenstand und telefonische Krankschreibung diskutiert wird, äußert sich der Bundesgerichtshof zum Vertrauen auf eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Der Entscheidung hat eine klassische Fallkonstellation aus dem Personenschadensrecht zugrunde gelegen. Der Kläger war bei einem Unfall mit einem Auto verletzt worden und anschließend von seinem behandelnden Arzt etwa ein Jahr und vier Monate krankgeschrieben worden.
Im Prozess hat er seinen Verdienstausfallschaden verlangt, der sich aus der Differenz zwischen seinem Arbeitslohn und dem von der Krankenkasse gezahlten Krankengeld zusammensetzt.

Das Oberlandesgericht Dresden hatte dem Kläger Verdienstausfall nur für die ersten vier Monate nach dem Unfall zugesprochen. Danach sei der Kläger, wie die Beweisaufnahme ergeben habe, wieder arbeitsfähig gewesen, sodass ihm kein Verdienstausfallschaden entstanden sei.

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden aufgehoben. Der Kläger gelte auch dann als arbeitsunfähig, wenn er auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arztes vertraut habe. Dann könne er auch einen Verdienstausfallschaden ersetzt verlangen.

Der Bundesgerichtshof hat damit aber keinen Freibrief für jeden Geschädigten geschaffen, der eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen kann. Vielmehr muss der Geschädigte beweisen, dass der medizinische Grund, aus dem die Krankschreibung erfolgt ist, auf dem Unfall beruht. Außerdem muss der Geschädigte seinen Arzt vollständig und zutreffend über seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen informieren. Darüber hinaus muss der Arzt das nach der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie vorgeschriebene Verfahren eingehalten haben. Dazu gehört insbesondere, dass eine ärztliche Untersuchung zu erfolgen hat und sich eine Krankschreibung immer auf die konkrete berufliche Tätigkeit des Geschädigten bezieht.

In dem konkreten Fall wird das Oberlandesgericht Dresden prüfen müssen, ob und für welchen Zeitraum der Kläger auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vertrauen durfte.

Ob das neue Urteil eher Geschädigten oder eher Haftpflichtversicherern nutzt, wird man abwarten müssen. Profitieren wird die kleine Gruppe von Geschädigten, bei denen weder die Unfallbedingtheit noch die genaue Verletzung in Streit gestanden hat, sondern nur die genaue Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Diese Geschädigten werden sich auf die neue Rechtsprechung berufen können.

Für alle anderen wird sich voraussichtlich nur der Anlass für den Rechtsstreit ändern. Die Frage, ob der medizinische Grund einer Arbeitsunfähigkeit auf dem Unfall beruht, hat sich bereits zuvor unter dem Stichwort der Unfallbedingtheit der Verletzung gestellt. Folglich wird vor Gericht auch weiter über diese Frage gestritten werden. Mit den weiteren Anforderungen, die an die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gestellt werden, sollen vor allem „Gefälligkeitsscheine“ bei der Regulierung unberücksichtigt bleiben. Hier dürfte es für Geschädigte schwer werden nachzuweisen, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung den strengen Anforderungen des Bundesgerichtshofs entspricht.

BGH, Urteil vom 08.10.2024 – VI ZR 250/22

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